DAS ISLAMISCHE KONZEPT DER GLEICHBERECHTIGUNG
"Ursprünglich bildeten die Menschen eine einzige Rasse und eine einzige Nation, dann beschloß Allah, sie in Familien, Stämme und Nationen aufzuteilen, damit sie das gegenseitige Verständnis erlernen" (2/213, 10/19, 49/13)
Charakteristisch für den Islam ist die Grundannahme absoluter Gerechtigkeit und absoluter Gleichheit vor Gott.
Das impliziert jedoch nicht auch eine Gleichberechtigung im westlichen Sinne schon hier auf Erden. Ganz im Gegenteil wird das Gleichgewicht auf Erden schon durch gottgewollte Ungleichheit stabilisiert. Ungleichheit verlangt nach gegenseitiger Ergänzung, soll ein System als Ganzes funktionieren.
Der Islam geht davon aus, daß die irdische Ungleichheit gottgewollt und somit bezweckt ist, denn hätte Allah es so gewollt, es wäre Ihm ein leichtes gewesen, alle gleich zu schaffen. "Er hat zu allem die Macht". Alles ist über die Erde hinweg ungleich verteilt: Wasser, Land, Kälte, Wärme, Trockenheit, Feuchtigkeit, Bodenschätze etc. Das heißt jedoch nicht, daß diese "gottgewollte Ungleichheit" als Endzustand akzeptiert werden sollte (diese Fehlannahrne wird im Westen als der "islamische Fatalismus" bezeichnet) sondern ganz im Gegenteil als Ausgangspunkt für eigene Einsatzmöglichkeiten gilt. Da "insgesamt von allem für alle da ist", ist den Menschen die Gelegenheit gegeben, die Kooperation statt der Konkurrenz zu erlernen. Keiner besitzt irgendein Gut auf Erden, es gilt nicht, sich die "Erde untertan zu machen". Menschen sind nicht mehr und nicht weniger als die Verwalter der ihnen anvertrauten göttlichen Güter. Später müssen sie ihrem Schöpfer Rechenschaft darüber ablegen, wie "gerecht, großherzig und menschlich" sie diese noble Statthalter-Aufgabe wahrgenommen haben.
Mann und Frau sind "Zwillingsgeschöpfe" Gottes, gleich vor Gott, aber verschieden hier auf Erden, da mit verschiedenen Aufgaben betraut. Die Gattung Mensch kommt weder ohne das eine noch das andere Geschlecht aus, beide sind zum Fortbestand gleichermaßen aber in unterschiedlicher Funktion, nötig. Auf eine Wirtschaftsterminologie übertragen, ist es ein System der Arbeitsteilung: jede Gesellschaft benötigt sowohl Arbeiter als auch Gelehrte etc. Ein Berufsstand ist nicht "besser" oder "schlechter" als der andere, es herrscht Bedarf an allem in gegenseitiger Ergänzung, sie sind also "Systemgleichberechtigt".
Der Gedanke einer gottgeschaffenen Gleichheit als Ausgangsbasis erscheint aus islamischer Sicht absurd: hätte jedes Land alle erforderlichen Rohschätze, Nahrungsmittel, Klimazonen etc., bestünde keine Notwendigkeit, im gegenseitigen Austausch miteinander in Beziehung zu treten. Hätte jeder Mensch die gleiche Ansicht, bestünde keine Notwendigkeit zur Toleranz. Wäre, im - utopischen - Extremfall, jedes Einzelwesen autark, dann wäre jeder seine eigene Insel, ohne Beziehung zu anderen Formen des Lebens. (Als Denkübung ist es interessant, sich einmal aus dieser Perspektive die alte Frage nach dem Sinn der Existenz zu stellen). Der Zweck der Unterschiedlichkeit ist das Miteinander. Es gestattet das Erlernen der Toleranz, der Harmonie der gegenseitigen Ergänzung, der Balance, der Mäßigung, des Wegs der Mitte.
Wie begrenzt es jedoch möglich ist, eine ausgleichende Gegenseitigkeit tatsächlich zu praktizieren, zeigt eine Anekdote, die über die spätere Lieblingsfrau des Propheten (s.a.), Aisha, überliefert wird:
Aisha wurde gemeldet, daß ein Bettler eingetroffen war. Sie sagte: "Man gebe ihm Brot". Sodann wurde die Ankunft eines Prinzen gemeldet. Sie sagte: Man lade ihn ein, mein Mahl mit mir zu teilen". Später befragte man Aisha über ihr Verhalten: war es gerecht - und damit im Sinne des Propheten - dem Armen wenig und dem Reichen viel zu geben? Aisha antwortete: Mit allem, was ich besitze, wird es mir nicht gelingen, einen Ausgleich zu schaffen. Was mir aber möglich war, war beide zufrieden zu stellen. Der Bettler freute sich über sein Brot, der Prinz über sein Abendmahl. Und beide über die freundliche Aufnahme".
Frauen im Islam - In der Tradition und heute
Betrachtungen aus kulturanthropologischer Perspektive
Dr. Michaela Mihriban Özelsel
Dial. d. Relig. 2.jg., Heft 2, S. 154-173 ISSN 0939-5539
Fürs Netz erstmalig aufbereitet von Muhammad Michael Hanel 1993
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